Die Justiz ist auf dem rechten Auge blind

Am 19. Januar 2024 erfolgte die Urteilsverkündung des Landgericht Chemnitz gegen die drei übrig gebliebenen Angeklagten. Der Vorwurf lautete Landfriedensbruch und gefährliche Körperverletzung. Nach der Rekonstruktion waren die drei Angeklagten Teil einer 15 bis 20 köpfigen Gruppe, die sich nach dem Ende des rechten Schweigemarsches am 01. September 2018 zusammenfanden, um gemeinschaftlich die Konfrontation mit Gegendemonstrant*innen zu suchen und hierbei mit Knüppeln bewaffnet diese unvermittelt angriffen. Kurz nach diesen Angriffen wurde ein Teil dieser Gruppe noch vor Ort von Polizeikräften festgenommen und ID behandelt.

Nach einer fünfjährigen Verschleppung des Verfahrens und einer katastrophalen Ermittlungsarbeit der Behörden, wurde das Verfahren gegen die drei Angeklagten unter Auflage der Zahlung von jeweils 1000 Euro eingestellt. Die Angeklagten räumten ein, Teil der Gruppe gewesen zu sein, trugen aber nicht zu einer Aufklärung bei. Unklar verbleibt, wie die Tätergruppe sich gefunden hatte und wie die Planung der Angriffe verlief. Die Teilnahme bekannter rechter Straftäter wie Lassei Richei, Pierre Bauer und Steven Feldmann, sowie die Beschreibung der betroffenen Zeug*innen lässt vermuten, dass die Angriffe koordiniert und abgesprochen stattgefunden haben.

Das Ende des ersten Prozessblocks zeigt in aller Deutlichkeit, dass rechte Gewalt in Deutschland, und insbesondere in Sachsen, verharmlost und nicht geahndet wird. Die Betroffenen rechter Gewalt von Chemnitz 2018 wurden mit dem ersten Urteil im Stich gelassen. Das fatale Signal an die rechte Szene ist, dass sie bei Angriffen keine Strafverfolgung fürchten müssen.

Weitere Prozesse gegen die übrigen 16 Angeklagten wurden angekündigt. Die Prozesstermine dagegen sind noch nicht terminiert. Wir als Solikampagne rufen weiterhin dazu auf die Betroffenen nicht im Stich zu lassen.

Woche 1: Und schwups waren es nur noch 3 Angeklagte…

Bisher haben zwei Termine am Landgericht Chemnitz stattgefunden. Am 11.12.23 fand der Prozessauftakt mit Anklageverlesung statt und am 13.12.23 sagten die ersten geschädigten Zeug*innen vor Gericht aus. Den ursprünglich 9 Angeklagten wird vorgeworfen, sich am 01. September 2018 nach einer Demonstration der AfD zusammengeschlossen zu haben, um Gegendemonstrant*innen zu suchen und zu verletzen. Die Gruppe umfasste zu diesem Zeitpunkt rund 15 bis 30 Personen. Teile dieser Gruppe bestanden aus gewaltbereiten und bekannten Faschisten aus Dortmund und Braunschweig: Hier zu nennen sind Steven Feldmann (Dortmund), sowie Pierre Bauer und Lasse Richei (Braunschweig). In mehreren Situationen griffen sie in der Stadt Gegendemonstrant*innen an, wobei es zu Einschüchterungen, der Zerstörung von mitgebrachten Fahnen und Transparenten, sowie Faustschlägen und Tritten kam. Davon betroffen war auch eine Gruppe aus Marburg, die sich auf dem Rückweg zum Bus befand und dabei angegriffen wurde.

Am ersten Prozesstag wurde die ermittelnde Beamtin des Staatsschutzes als Zeugin vernommen. Bei dieser Vernehmung zeigte sich deutlich, dass rechte Gewalt verharmlost wird. Auf die Nachfragen, warum es eine jahrelange Verschleppung der Prozesse gegeben hat, wurde folgendermaßen geantwortet: „Die Polizistin erklärte, dass das Ermittlungsverfahren wegen der Angriffe auf Gegendemonstrant*innen keine Priorität gehabt hätte und die Ermittlungen so die meiste Zeit von nur zwei Beamt*innen geführt wurden“.

Auch fassungslos macht die Situation mit den Angeklagten. Nach dem 13.12 gibt es von den ursprünglich 9 nur noch 3 Angeklagte für den ersten Prozessblock.

Wie vorab bekannt geworden, befindet sich der einschlägig bekannte Neonazi Steven Feldmann aus Dortmund seit dem 17. November auf der Flucht. An besagtem Tag hätte Feldmann seine Haft von 2 Jahren und vier Monaten (unter Berücksichtigung der Anrechnung der U-Haft Zeit) antreten müssen. Aufgetaucht ist er nicht. Stattdessen verkündete er auf Instagram am 15. November folgendes: „So Freunde! Meine „Abschieds-Rundreise“ ist fast geschafft. Die letzten Tage habe ich mir Serbien und Bulgarien gegönnt, heute gibt es einen abschließenden Tagesausflug nach Belgien und Frankreich“.

Der bekannte Kampfsportler Pierre Bauer aus Braunschweig meldete sich über seinen Anwalt: Er befände sich in einer psychiatrischen Klinik und könnte deswegen nicht am Prozess teilnehmen.

Ein weiterer Angeklagter aus Bulgarien lässt sich nicht ausfindig machen.

Bei zwei weiteren Angeklagten wurde das Verfahren eingestellt.

Am 13.12 wurde das Verahren gegen Rico W. mit der Zahlung von 1000 Euro eingestellt.

Und so waren es, schon nach zwei von elf Verhandlungstagen, nur noch drei Angeklagte. Ein juristisches und gesellschaftliches Trauerspiel.

Es zeigt sich in aller Deutlichkeit: Betroffene rechter Gewalt werden immer wieder im Stich gelassen. Ob von der Polizei, von der Justiz oder von der Gesellschaft. Die Prozesse gegen die angeklagten Faschisten in Chemnitz sind in ihrer Lächerlichkeit kaum zu überbieten.

Start der Solikampagne

Die Bilder und Videos von Faschist*innen, die am 26. August 2018 und den darauffolgenden Monaten in Chemnitz auf offener Straße Jagd auf Migrantisierte und Geflüchtete machten, gingen durch die ganze Welt. Im Nachgang versprachen Politiker*innen eine schnelle Überführung der Angreifer und sprachen ihre Solidarität mit den Betroffenen aus. Passiert ist aber, wie so oft, wenig. Faschist*innen konnten ihre Hegemonie in Chemnitz festigen und rechte Gewalt bleibt in Sachsen Kontinuität. Der parlamentarische Arm der Rechten in Form der AfD liegt aktuell bei den Wahltrends an erster Stelle.

Die Betroffenen von Chemnitz 2018 wurden alleine gelassen. Die sächsischen Gerichte scheinen, in all der Zeit, ein geringes Interesse daran zu haben die Prozesse durchzuführen. Von den 27 angeklagten Faschisten befinden sich zwei auf der Flucht und sind untergetaucht. Circa 30 Betroffene werden als Zeug*innen und in der Nebenklage bei den anstehenden Gerichtsprozessen aussagen müssen.

Fünf Jahre lang mussten die Betroffenen warten. Fünf Jahre voller Unsicherheit und Enttäuschung. Fünf Jahre lang ohne einen Abschluss mit den traumatischen Ereignissen. Und dann, endlich, nach unzähligen Verschiebungen, wurden Ende 2023 überraschend die ersten Prozesstermine mitgeteilt. Im Kontext dieser Erfahrungen haben wir wenig Vertrauen darin, dass juristische Gerechtigkeit erfolgen wird. Wenn sie dies nicht bereits sind, werden sich diese Prozesse als eine Farce heraustellen.

Die Solidaritätskampagne „Chemnitz 2018: Kein Vergeben & Kein Vergessen!“ hat sich zusammengeschlossen, um die Betroffenen nicht alleine zu lassen, die sächsischen Verhältnisse zu kritisieren und bei rechter Gewalt nicht zu schweigen.

Chemnitz 2018: Verharmlost. Verdrängt. Vergessen.

Wir vergeben nicht. Wir vergessen nicht. Wir erinnern.

– Dezember 2023